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Urban Change: Wie die Hotellerie zum „Placemaker“ wird

Die Innenstädte urbaner Gebiete transformieren sich aktuell rapide und tiefgreifend. Welche Rolle die Hotellerie in diesem Kontext künftig einnimmt und was die Branche schon jetzt aus dem Einzelhandel lernen kann? Ein Transfer-Talk mit Wolfgang Christ, Architekt und Professor für Städtebau an der Bauhaus-Universität Weimar.

Skyline Frankfurt am Main

In urbanen Lagen kleiner und großer Städte wie Frankfurt am Main findet ein umfassender Change-Prozess statt. Immer mehr Handel verschwindet aus den Innenstädten – und lässt dadurch auch der Hospitality künftig eine neue Rolle zukommen. (Foto: Unsplash/Igor Flek).

elevatr: Herr Christ, Sie sind Architekt, Stadtplaner und Professor an der Bauhaus-Universität Weimar und sagen, dass sich die Innenstädte in den kommenden Jahren drastisch verändern werden. Inwiefern?

Wolfgang Christ: Eine Innenstadt ohne Läden kann sich niemand wünschen – dennoch befinden wir uns bereits auf dem Weg dorthin. Unsere Innenstädte sind für den Online-Handel nicht mehr systemrelevant. Die Ware kommt immer öfter zum Kunden und nicht mehr umgekehrt. Die Folgen für die Innenstadt, also auch für die Stadthotellerie und für unsere Gesellschaft als Ganzes, sind vielen noch gar nicht bewusst: Das Zeitalter der scheinbar ewigen Symbiose von Stadt und Handel geht zu Ende.

In den kommenden Jahren werden Innenstädte den Handel als Ankerfunktion verlieren, ohne dass ein gleichwertiger Ersatz sichtbar wäre. Wie bringen wir also Frequenz zurück ins Zentrum? Kann Urbanität ohne Handel überhaupt funktionieren? Und wie wird das alles vom Klimawandel, vom demografischen Wandel und von der Einwanderungsgesellschaft beeinflusst? 

„Hotelinvestitionen werden gleichermaßen zu Investitionen in den Standort und die Gesellschaft der jeweiligen Stadt. Hotels werden in Zukunft Mitverantwortung für die Stadt und deren Entwicklung übernehmen. Eine Rolle, die für traditionelle Familienunternehmen seit jeher gelebter Alltag ist – für einige der Asset-Klasse aber noch neu sein mag.“

Pragmatische, aber gleichwohl visionäre Zukunftsmodelle wie die des „New Urbanism“ in den USA fehlen noch. Auch eine „High Street Task Force“, wie es sie in Großbritannien gibt, existiert nicht. Und neben dem Online-Shopping muss die Innenstadt weitere tiefgreifende Transformationsprozesse bewältigen, deren Ausgang ungewiss ist: die Virtualisierung der sozialen Beziehungen, Stichwort Social Media oder die Individualisierung und Fragmentierung der Theater-, Kino- und Fernsehkultur. Vor allem aber die Dislozierung der Arbeit vom Stadtbüro ins Homeoffice.

Welche Rolle wird die Hotellerie dabei künftig spielen?

Dies wird entscheidend davon abhängen, ob und wie unsere traditionellen Innenstädte die digitale Agenda von Amazon, Alphabet, Apple & Co integrieren können. Für die Hotellerie heißt das: Es wird immer schwerer möglich sein, sich an einen lokalen Partner anzudocken und die Vorteile der „Lage Lage Lage“-Potenziale in der Stadt abzuschöpfen. Wir werden individuellere, einzigartigere Innenstädte erleben, sehr wahrscheinlich widersprüchlicher, konfliktreicher. 

Die Hotellerie wird aus meiner Sicht mit einem neuen Rollenverständnis auf die komplexen Herausforderungen antworten. Das heißt, sie wird sich aktiv in die Stadtentwicklung einbringen – als integrativer Baustein eines Stadtumbaus, der gerade erst begonnen hat. Die Stadthotellerie der Zukunft wird Teil ihrer „Community“. Eine ihrer unmittelbar erlebbaren und langfristig nachhaltigen Leistungen wird das „Placemaking“ sein. Dabei kann die sinnvolle Gestaltung eines Raumes sich sowohl an die Bewohner als auch an Besucher richten und den „place“ attraktiv für Investoren machen.

Hotelinvestitionen werden gleichermaßen zu Investitionen in den Standort und die Gesellschaft der jeweiligen Stadt. Hotels werden in Zukunft Mitverantwortung für die Stadt und deren Entwicklung übernehmen. Eine Rolle, die für traditionelle Familienunternehmen seit jeher gelebter Alltag ist – für einige der Asset-Klasse aber noch neu sein mag.

Wenn immer mehr Immobilien des Einzelhandels leer stehen – welche Chancen bringt dies für die Innenstädte und für die Hospitality Branche mit sich?

Anfang des 20. Jahrhunderts soll Adolf Jandorf auf die Frage, wie er auf die abwegige Idee kommen konnte, sein luxoriöses „Kaufhaus des Westens“ ausgerechnet abseits der Berliner Zentrumslagen zu bauen, geantwortet haben: „Was ein guter Standort ist, bestimme ich!“ Ein strategischer Anspruch, der mit leerstehenden und entsprechend günstig zu erwerbenden Nachbarimmobilien wieder Aktualität gewinnen könnte. Etwa um Angebote zu arrondieren, die heute mit einer Hotelnutzung kompatibel sind, zum Beispiel Co-Working. Oder innovative, spannende Nutzungen zu ermöglichen, wie in dem wachsenden Mix aus Kunst, Handwerk, Gastronomie und Handel.

„Die Digitalisierung des Konsums lehrt uns, dass alles, was digitalisiert werden kann, auch digitalisiert wird. Übrig bleibt das, was nicht entmaterialisiert und medialisiert ins Netz transformiert werden kann: Atmosphäre, Authentizität, Aura.“
Wolfgang Christ

Welche Bedeutung werden sogenannte Mixed-Use-Konzepte mit Hotels künftig für die Innenstädte haben und wo können Synergien zwischen Handel und Hotellerie entstehen?

Die Gemeinsamkeiten liegen auf der Hand: der stationäre Handel und Hotels sind Treffpunkte auf Zeit. Beide können nur existieren, wenn sich Menschen auf den Weg zu ihnen machen – ihr Haus, ihre Wohnung, ihr Büro verlassen und den Ort wechseln. Was den Innenstadthandel angeht, so lernen wir gerade, dass das alles nicht mehr selbstverständlich ist. Es braucht zunehmend einen guten Grund, noch selbst zur Ware zu kommen. Und die Digitalisierung des Konsums lehrt uns, dass alles, was digitalisiert werden kann, auch digitalisiert wird. Übrig bleibt das, was nicht entmaterialisiert und medialisiert ins Netz transformiert werden kann: Atmosphäre, Authentizität, Aura. Also das, was unmittelbare leibliche Erfahrung ist, was unsere Sinne nicht nur einzeln und abwechselnd anspricht, sondern immer zusammen und als ein Ganzes berührt – den kompletten Menschen.

Ambiente ist die einfachste Form des Angebots, den Bildschirm oder Touchscreen gegen das „wahre Leben“ zu tauschen. Regale werden Tischen weichen, die ein Gefühl von Gemeinsamkeit und „Wir" vermitteln, wie es bereits in den Apple-Stores zu sehen ist. Die Ware tritt in den Hintergrund zugunsten von Kommunikationsangeboten zu Themen wie Nachhaltigkeit, gutes Leben, Klimagerechtigkeit. Die Sortimentsidentitäten verschwimmen, Grenzen werden durchlässig. Waren und Dienstleistungen werden um ein Konzept herum arrangiert. Gastronomie wird zum Frequenzbringer. Läden gewinnen Clubcharakter oder mutieren zu Wohnzimmern. Händlerpersönlichkeiten werden wieder sichtbar. Sie bringen Menschen zusammen und Marken wirken als Sinnstifter. Dabei ist das Internet präsent, wenn auch oft im Hintergrund: Amazon und Achtsamkeit schließen sich nicht aus, im Gegenteil, sie gehen eine strategische Allianz ein.

„Alle Zeichen deuten darauf hin, dass Handel und Hotellerie in der Innenstadt eine Zukunft haben, wenn sie alles hinter sich lassen, was auf Effizienz getrimmt ist, was standardisiert und reproduziert werden kann, was alle haben und es überall gibt. Kurz: was langweilig ist.“

Für die Hotellerie folgt daraus, dass es sinnvoll ist, genau zu studieren, was aktuell im avancierten Handel geschieht. Kaufleute haben schon immer technische und gesellschaftliche Innovation adaptiert und in die Innenstadt gebracht: Eisen-Stahl-Beton-Architektur, elektrische Beleuchtung, Reklame und Marketing, Telegraphie und Telefon, Fahrstuhl und Rolltreppe und nicht zuletzt das Elektroauto und den Elektro-LKW, mit dem Wertheim und Tietz schon kurz nach 1900 Pakete in Berlin auslieferten: „Same Day-Delivery“.

Alle Zeichen deuten darauf hin, dass Handel und Hotellerie in der Innenstadt eine Zukunft haben, wenn sie alles hinter sich lassen, was auf Effizienz getrimmt ist, was standardisiert und reproduziert werden kann, was alle haben und es überall gibt. Kurz: was langweilig ist.

Weder die Handels-, noch die Hotelkultur wird aus der Innenstadt verschwinden, wenn sie sich auf die „analoge Agenda“ des Einmaligen, Einzigartigen, Sinn und Sinne ansprechenden einlassen.

Die Hotelimmobilie hat sich als eigenständige Asset-Klasse auf dem deutschen Anlagemarkt etabliert. Dennoch haben vor allem Stadthotelimmobilien-Investments stark in der Krise gelitten. Wie ist diesbezüglich Ihr Zukunftsausblick?

Wenn sich schon Jugendherbergen als „Coworking-, Chillout- und Play-Areas“ vermarkten, dann dürfte klar sein, wohin die Reise für die Stadthotellerie geht: in die schöne neue Wohn- und Arbeitswelt im Zeichen der Digitalisierung.

Darüber hinaus wird – nicht zuletzt dank Corona – immer deutlicher sichtbar, wie Wohnen, Arbeiten, Reisen mit Tourismus und Homeoffice, Karriere und Auszeit zu einem noch diffusen Lebensstil der „Generation Zoom“ zusammenwachsen. Für die Hotellerie ist das mehr Chance als Risiko. Zuhause auf Zeit wird ein Lebensstilmodell sein. Die Konkurrenz wird hart: München oder Merida, Weimar oder Wien. Aber auch da gilt: Gewinnen werden jene Standorte, die nicht nur schön und spannend sind, sondern das bieten, was den Internetstress vergessen lässt und der mentalen Gesundheit zugutekommt. Oder wie man früher sagte: „was Körper, Geist und Seele zusammenhält“.

Interview: Verena Usleber