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„Wer Trends nachgeht, ist schon auf der Verliererspur“

Wolfgang Hingerl ist Unternehmer, Gastronom und Sommelier. Sein Geschäft hat er von der Pike auf gelernt. Für elevatr blickt der Host der Münchner Mural Group in die Future of Gastronomy.

Wolfgang Hingerl Mural

Blick in die Zukunft: Wolfgang Hingerl will mit seiner Mural Group unter anderem der „Wegwerfgesellschaft“ etwas entgegensetzen. (Foto: Mural Group)

elevatr: Wolfgang Hingerl, was sind Transformationstreiber der Gastronomie?

Wolfgang Hingerl: Neugierde, Personalknappheit, finanzielle Situation und die Verfügbarkeit von Produkten.

Welche Auswirkungen haben diese Treiber auf die Future Gastronomy?

WH: Personalknappheit macht kreativ: Küchen werden in die Mitte des Raumes gebaut, der Koch wird zum Kellner und andersherum. Luxusprodukte, die einen weiten Lieferweg haben, werden künftig ihren Preis haben. Das zeigt sich durch die aktuelle Energiedebatte. Wir sollten unsere Geisteshaltung verändern und Produkte vollständig verarbeiten. Wegwerfen ist old school! Veredelungsprozesse wie Fermentieren und Einwecken könnten es uns ermöglichen, Gästen auch im Winter spannende Foodkreationen anzubieten. Aus Skandinavien können wir lernen, wie mit Hilfe von Gärschränken und Pilzen neue Geschmäcker erschaffen werden. Not macht erfinderisch – auf allen Ebenen. Jeder Gastronom sollte sein Profil in Richtung Trendsetter feilen: wer Trends nachgeht, ist schon auf der Verliererspur, da er immer zu spät dran ist.

„Es ist eine Wegwerfgesellschaft entstanden, der wir gegensteuern wollen.“

Jüngster Ableger der Mural-Familie ist neben dem Sternerestaurant „Mural“, der „Bar Mural“ und der „Bambule! Bar“ (letztere im Münchner Hotel Schwan Locke) das „Mural Farmhouse“ im Hotel Wunderlocke im Stadtteil Sendling. Wie elevaten Sie das Thema Nachhaltigkeit dort?

WH: Wir betrachten Nachhaltigkeit als Zusammenspiel aus ökologischer, wirtschaftlicher und sozialer Nachhaltigkeit im Sinne einer guten Unternehmenskultur. Langfristige Beziehungen sind uns wichtig. Regionale Herkunft verliert ihre Vorzüge, wenn schlecht produziert wurde. Wir haben daher beispielsweise mehr Wein aus Frankreich als aus Österreich, da wir uns mit dieser landwirtschaftlichen Philosophie besser identifizieren können. Diese Geisteshaltung muss dem Gast vermittelt werden – ebenso wie die damit verbundenen Kosten. Es ist eine Wegwerfgesellschaft entstanden, der wir gegensteuern wollen. Wäre es nicht wünschenswert, dass Restaurants selbst Flächen anmieten, um Lebensmittel herzustellen? Spätestens dann schmeißt man die Schale der Karotte oder den Kopf vom Fisch nicht mehr weg.

„Misch- und Selbstversorgerbetriebe könnten die Zukunft werden.“

Was kommt nach „Farm-to-Table“ und „Nose-to-Tail”?

WH: Misch- und Selbstversorgerbetriebe könnten die Zukunft werden. Firmen, die eng kooperieren, so dass Gewinne aus Produktion und Gastronomie geteilt werden. Die Betriebe könnten sich gegenseitig bei Engpässen im Team unterstützen, gemeinsam ausbilden und somit die verschiedenen Wertschöpfungsketten verzahnen. Diese Form der Kooperation gibt es bereits in Ländern mit größeren Flächen, wie etwa in den USA und Australien. Auch für Investoren wird dieses Modell immer attraktiver. Ein zukunftsweisender Ansatz geht nicht einher mit Gift, verkürzten Wachstumsperioden oder Renditefokus. Wir brauchen künftig mehr Lebensmittel, die ohne chemische Dünger hergestellt wurden, aus der unmittelbaren Region kommen, Sonne gesehen haben und in gesunder Erde gewachsen sind – Geschmack is key.

Und kurze Lieferketten werden zum Wettbewerbsfaktor?

WH: Aktuell erleben wir, dass alles teurer wird. Lokaler Bezug ist günstiger, da die Logistikkosten im Rahmen bleiben. Die Reichweite für die wesentlichen Bestandteile unserer Speisekarte beträgt zehn bis 50 Kilometer – und wir befinden uns nicht in Abhängigkeit von Lieferketten. Zum Wettbewerbsfaktor wird in diesem Zusammenhang auch Storytelling: Dass man die Geschichten der Landwirte erzählt. Allerdings: Die Verfügbarkeit natürlicher Produkte ist nicht immer planbar. Daher ist unser Küchenteam immer wieder gefordert, kreativ zu sein, um neue Gerichte und Getränke zu entwickeln.

„Wein wird zum Statussymbol.“

Stickwort Verfügbarkeit: Wie wirken sich die Transformationstreiber auf das Thema Wein aus?

WH: Die Klimaveränderung macht Ernten unvorhersehbar. Im Burgund sind Produzenten dieses Jahr glücklich, genau das Gegenteil findet man im Piemont. Die Pflanze muss widerspenstiger werden, muss mit viel Sonne, Hitze oder auch Wasserfluten auskommen können. Wir müssen mit der Natur gehen, besonders beim Boden: Handwerk ist die Basis der Pflanzen. Die Fläche braucht Wasser und Wein wird somit zum Luxusprodukt.

Was heißt das für die Zukunft?

WH: Die jüngere Generation trinkt immer mehr guten Wein, selbst nachts im Club spielt er eine Rolle – er entwickelt sich zum Statussymbol. Ich hoffe, Wein wird im untersten Preissegment – etwa drei Euro netto – viel teurer, um als Massenprodukt keine Rolle mehr spielen zu können. Bei uns beschäftigen sich alle Mitarbeitenden mit Wein, verstehen die Herkunft und den Produktionsverlauf.

Viele Gäste legen zudem einen stärkeren Fokus auf Gesundheit. Was bedeutet das für (Beverage)-Konzepte der Zukunft?

WH: Wer erfolgreich sein will, darf nicht nur ein „Ersatzessen“ bieten. Struktur und Spannung sind wichtig, um Vielseitigkeit bieten zu können. Konkret haben wir bei uns beispielsweise eine nicht-alkoholische Getränkebegleitung, die Kefir, Fermentiertes, selbstgemachte Sirups, Fruchtpürees, Essenzen und Tees beinhaltet. Die Getränke selbst herzustellen, macht Spaß und wir verwerten Produkte, die keinen Platz auf dem Teller gefunden haben. Darüber hinaus können handwerklich hergestellte Getränke wirtschaftlich wirksam verkauft werden. Und: Die Mitarbeitenden werden in Phasen des Leerlaufs beschäftigt und kreativ gefordert.

Welche Rolle spielen die Mitarbeitenden in der Mural-Familie und speziell im neuen Outlet mit insgesamt fünf Restaurant-Konzepten auf acht Etagen für Frühstück, Lunch und Dinner, à la carte-Geschäft, Fine Dining, Café, Bar und Dachterrasse?

WH: Die Mitarbeitenden sind unser Kapital und unser Fundament. Fluktuation, sprich Wechsel im Team, sollte es erstmal nicht geben, damit das Investment in die Entwicklung der Mitarbeitenden nicht verloren geht.

Wie stellen Sie das sicher?

WH: Bei mehreren Konzepten können wir jedes Teammitglied individuell einsetzen. Väter können sich beispielsweise Elternzeit nehmen – auch danach richten wir uns. Am Ende bekommen wir das Investment zurück, da super motivierte Mitarbeitende bei uns bleiben, bis hin zu den Azubis. Außerdem ist Küchenchef Rico Birndt ein gutes Vorbild und ein super Motivator.

Rico Birndt: Auf der Dachterrasse bieten wir beispielsweise lässiges Streetfood an, im Fine Dining wird Präzision gefordert – so findet jeder eine passende Aufgabe. Möchte jemand die Ausbildung zum Sommelier machen, unterstützen wir ihn mit Reisen, Zeit für die Schule und bieten passende Arbeitszeiten. Als Dank für die Zusatzqualifikation bekommen Mitarbeitende mehr Eigenverantwortung und ein eigenes Ressort. Hier dürfen sie dann Entdecker sein und neue Konzepte mitentwickeln.

 

„Wir wollen ein Klima gestalten, das auf Eigeninitiative aufbaut, die sich auf die Motivation und somit auf die Qualität der Arbeit auswirkt.“

Was ist der richtige Führungsstil für so ein Großprojekt?

WH: Es ist wichtig, nicht zu viel Helikopter oder zu autoritär zu sein, dennoch sind klare Ansagen wichtig für ein gemeinsames Grundverständnis. Es gibt Rechte und Pflichten. Wir trainieren den Umgang im Team jeden Tag – inzwischen helfen und verbessern sich die Mitarbeitenden gegenseitig, sodass wir als Führung oft gar nicht mehr eingreifen müssen. Aktuell stecken wir auch in den Vorbereitungen zu einem Regelwerk als Guide, der besonders für junge Mitarbeitende als Leitplanke dienen kann. Bestandteil wird auch die Historie unserer Mural Locations mit allen wichtigen Facts: wo kommen wir her, wie sieht unsere Zukunftsvision aus? Wir wollen ein Klima gestalten, das auf Eigeninitiative aufbaut, die sich auf die Motivation und somit auf die Qualität der Arbeit auswirkt.

RB: Der hohe Qualitätsanspruch ist mein Antreiber. Daher sehe ich die Mitarbeiter-Führung auch als größte Herausforderung. Ich bin Personaler, bester Freund, und nebenbei noch der Chef. Dafür braucht es Zeit. Unsere Bühne ist groß, der tägliche Auftritt dauert von sieben bis 23 Uhr.

Ist Individualgastronomie in Hotels ein Zukunftskonzept?

WH: Generell kann man sagen, dass der Vernetzung mit der jeweiligen Stadt in jeder Hotelgastro ein gesonderter Stellenwert zukommt. Sie gelingt eher durch ein Konzept, das nicht standardisiert ist, sondern individuellen wie zeitgemäßen Bedürfnissen gerecht wird.

Zudem steht und fällt alles mit einem coolen Partner. In unserem Fall ist das Locke Hospitality, die sich bunte Jungs und Mädels vor Ort gesucht haben, die individuellen Spirit einbringen. Der Gastronomie wird ein hoher Stellenwert zugewiesen – sie wird nicht nur als Zubrot in Form von einer großen Minibar mit Bedienung betrachtet. Wir arbeiten auf Augenhöhe und entwickeln so gemeinsam ein zukunftsträchtiges Konzept.

Last but not least: Welche Rolle spielt die Digitalisierung künftig im gesamten Prozess?

WH: Die Digitalisierung ist eine notwendige Ergänzung, da wir näher am Menschen sein können. Wir können unsere Zeit Gästen und Mitarbeitenden schenken und stellen somit Handwerk und Leidenschaft ins Zentrum unseres Tuns. Die Verknüpfung zwischen Reservierungssystem, Kasse und Warenwirtschaft ermöglicht kurze Wege in der Organisation und spart damit auch Energie. Wir werden geschult, präzise und fokussiert zu arbeiten, damit diese Prozesse funktionieren können.

Interview: Bettina von Massenbach

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Wolfgang Hingerl ist Inhaber der Mural Group, zu welcher das Sternerestaurant „Mural“, die „Bar Mural“ sowie die „Bambule! Bar“ im Münchner Hotel Schwan Locke gehören. Jüngstes Konzept ist das „Mural Farmhouse“ unter dem Dach des Hotel Wunderlocke in München-Obersendling. Dort realisiert Hingerl zusammen mit Küchenchef Rico Birndt mehrere Restaurant-Konzepte über acht Etagen hinweg: Frühstück, Lunch, Dinner – lokal, saisonal, „Farm-to-Table“ und „Nose-to-Tail“.