
Von der verwahrlosten Ruine zum kulturellen Hotspot, einem Ort der Inspiration und Begegnung werden – laut, bunt, kreativ und künstlerisch. Die ganze Stadt soll neue kulturelle Energie von der fast 100 Jahre alten ehemaligen Heizwerk schöpfen. So die Vision der Brüder Michael und Christian Amberger, Initiatoren und Bauherren des Bergson Kunstkraftwerk und Inhaber des Münchner Familienunternehmens Allguth. (Foto: Bergson)
Von den alten Gemäuern ist nicht mehr viel übrig. Die Außenwände, innen die Silos des vor 60 Jahren stillgelegten Aubinger Heizkraftwerks, in denen die Kohle gelagert wurde. Im äußersten Münchner Westen, zwischen Einfamilienhäusern und S-Bahn-Strecke, steht jetzt ein Kunsthaus mit eigenem Konzertsaal, Restaurant, mehreren Bars, Biergarten im Sommer und Eistockbahnen im Winter, einer Dependance der Galerie König. „BERGSON“ schreien einem die überlebensgroßen, mattgrauen Großbuchstaben vor dem Gebäude den Namen des Kulturzentrums schon von Weitem zu.
Hier passiert alles gleichzeitig, in neun Sälen treten Musiker auf, Comedians machen Witze, Schriftsteller lesen aus ihren Werken, und Journalisten diskutieren vor der Bundestagswahl mit Politikern, ansonsten unter sich oder mit dem Publikum. Viel auf einmal also. Matthias Altmann und Roman Sladek, die beiden Geschäftsführer, haben zum Gespräch geladen, sie wollen ihre Idee hinter einem der spannendsten Kunstprojekte des Landes erläutern. Hier und da wird noch gewerkelt, eine Wand geweißelt, die frisch verpflanzten Bäume vor dem Gebäude müssen noch gestützt werden, damit der Wind sie nicht umknickt.
Roman Sladek: Wirklich angekommen sind wir noch nicht, ich weiß auch nicht, ob uns das jemals gelingen wird. Ich wünsche es mir auf der einen Seite, andererseits ist mit Ankommen ja auch Stillstand verbunden. Es ist ein tägliches Abwägen: Was ist schon gut so, wie sind wir, und wo geht es noch weiter? Das berührt wahrscheinlich alle im Haus.
Matthias Altmann: Man kann auch gar nicht leugnen, dass wir noch nicht fertig sind, dass man noch das ein oder andere Kabel sieht, was noch nicht an seinem finalen Bestimmungsort ist. Das entspricht auch dem Aggregatszustand der Organisation selbst.
elevatr: Gerade läuft also noch die Findungsphase?
RS: Wir sind mit einer klaren Vision hier reingegangen. Wir wollen einen Ort für alle Menschen mit verschiedenen Interessen, Geschmäckern, Einkommensstrukturen schaffen, der möglichst unkompliziert ist – und den es so noch nicht gibt. Diese Vision in die Wirklichkeit zu überführen, ist dabei die eigentliche Herausforderung. Wenn gleichzeitig 480 Leute in unseren Konzertsaal kommen, das Restaurant ausreserviert ist und parallel dazu noch ein großes Business-Event stattfindet, geht es auch um operative Realitäten und nicht nur um die Vision. Das voreinander zu beschützen, ist das eigentlich Spannende.
Das klingt, als stündet ihr zuweilen auch vor großen Herausforderungen?
RS: (Altmann und Sladek schauen sich an und lachen) Das tut auch mal weh, ja. Es ist aber faszinierend, zu sehen, wie schnell so ein Unternehmen in der Lage ist, sich immer wieder zu erholen. Wenn man heute noch denkt, ich weiß nicht, wie wir das morgen schaffen sollen, morgen merkt, irgendwie geht das schon, und übermorgen verwundert feststellt, wie krass es ist, wie wir das gestern eigentlich geschafft haben.
MA: Es gab schon Tage, wo wir an die absoluten Grenzen des Machbaren gekommen sind. Aber das gehört dazu. Nur so lernen wir, was das Haus eigentlich kann, was es verträgt. Und erkennen sein wahres Potential.
Sladek, der künstlerische Leiter des Bergson, ist der lässigere der beiden, trägt Kapuzenpulli, Sneaker und die Träger seines metallic glänzenden Rucksacks besonders weit. Er leitet die hauseigene Bigband Jazzrausch, die international bekannt dafür ist, Techno zu spielen. Altmann kommt aus der Hotellerie, trägt Cordhemd, Sakko und akkurat gescheiteltes Haar, kümmert sich ums Finanzielle und verantwortet unter anderem das hauseigene Restaurant „Zeitlang“. Auf Bayerisch bedeutet das soviel wie Sehnsucht oder Heimweh. Während des Gesprächs blinken die Smartphones von Altmann und Sladek immer wieder auf, Mitarbeiter, potentielle Kunden. Mal einen Moment der Ruhe, eine Pause zum Durchatmen, das sagen beide, haben sie gerade kaum. Auf die Interviewfragen antwortet meist zunächst Sladek, bevor Altmann spricht.
„Ich vermisse manchmal die Freude am Ausprobieren an der Hotellerie, oft wird ein funktionierendes Konzept auf das nächste Haus übertragen.“ Aus ökonomischer Sicht sinnvoll, aber so geht auch Individualität verloren.“
Das Kunstkraftwerk Bergson steht im Münchner Speckgürtel, am Stadtrand im eher faden Viertel Aubing. Warum braucht die Stadt genau hier ein Konzerthaus in dieser Größe?
RS: Ein Konzerthaus in dieser Größe braucht es nicht. Aber es braucht das Bergson Kunstkraftwerk in seiner Vielfalt. Dieser Ort funktioniert nur, weil er diese Vielfalt hat. Die Frage ist immer, ob das Angebot attraktiv ist. Die Ausrede der Lage ist dabei die leichteste. Wir konzentrieren uns in dem Bewusstsein, wo wir sind, und den Herausforderungen, die damit einhergehen, darauf, eine Attraktivität zu entwickeln, bei der zwölf Minuten S-Bahn-Fahrt oder 30 Minuten Autofahrt ein überbrückbares Hindernis sind.
MA: Die Diskussion ist ja auch sehr münchnerisch. Wenn man in einer echten Großstadt, London zum Beispiel, den Leuten sagen würde, setz dich in eine S-Bahn und du bist in 20 Minuten an so einem spannenden Ort, dann stellt das dort kein Hindernis dar. In München hat man aber immer den Eindruck, die Stadt reicht vom Odeonsplatz bis zum Viktualienmarkt. Und wenn wir das Argument mal herumdrehen: Wenn ein Besucher zu uns kommt, verweilt er tendenziell länger als vielleicht in der Innenstadt, denn außenherum gibt’s halt nichts.
Ihr wollt es ermöglichen, dass man »Kultur neu spüren« kann. Was unterscheidet euren Ansatz von anderen Kunsthäusern?
RS: Die Kultur sorgt für eine unglaubliche Aufladung dieses Ortes. Und für eine wahnsinnig umfangreiche Berichterstattung, egal ob lokal, national oder international. Diese Aufmerksamkeit und die kulturellen Erlebnisse laden den Ort auf und machen ihn attraktiv. Diese Attraktivität wiederum geht mit einer gewissen Verantwortung einher. Unsere Konzertkarten kosten alle 39 Euro, man kann aber auch eigenständig den Social Price wählen, dann kostet ein Ticket 15 Euro weniger. Wir wollen Kultur zugänglich machen, und nicht unsere Attraktivität gnadenlos abwirtschaften.
Was hat euch seit der Eröffnung überrascht, welche Hoffnung hat sich nicht bewahrheitet?
MA: Als wir losgelaufen sind, hatten wir ein Bild von einem typischen Bergson-Besucher, das ganz anders ist als das, was wir tatsächlich hier erleben. Wir dachten, das Publikum ist wesentlich diverser, jünger. Tatsächlich ist es Mitte 40 aufwärts, aus der näheren Umgebung, also dem Münchner Westen. Es ist spannend zu sehen, was man für Bilder im Kopf hat und wie dann die Realität aussieht.
RS: Wir sehen uns viel kritischer, als wir von außen betrachtet werden, unsere Ansprüche an uns sind sehr hoch. Und nicht alles kann binnen weniger Monate gleichzeitig funktionieren. Von außen bekommen wir aber das Feedback, dass wir bewundert werden dafür, was wir hier auf die Beine gestellt haben.
Die beiden Brüder Christian und Michael Amberger, Besitzer der Tankstellenkette Allguth, haben 2005 das Gelände, auf dem das ehemalige Aubinger Heizkraftwerk stand, erworben. In den vergangenen 20 Jahren gab es verschiedene Ideen, was mit dem Areal passieren soll: Zunächst sollte hier eine originelle Konzernzentrale entstehen, auch eine Brauerei konnten sich die Neu-Eigentümer vorstellen. Als im Keller eine Kolonie der geschützten Mopsfledermaus entdeckt wurde, musste umdisponiert werden. Jugendliche nutzten das Areal zu dieser Zeit vornehmlich für illegale Raves.
Irgendwann dann kam die Idee auf, einen Ort zu erschaffen, »an dem Hoch- auf Subkultur« trifft, wie Michael Amberger Jahre später auf einer Pressekonferenz erklärte, in dem also Poetry-Slam aber auch klassische Konzerte ihr Zuhause haben. Der Umbau der denkmalgeschützten Fabrik hat rund drei Jahre gedauert, und ist, das betonen Altmann und Sladek im Gespräch, wohl um die Unabhängigkeit des Bergson zu unterstreichen, ohne öffentliche Gelder umgesetzt worden.
Heute trifft alter Industriecharme auf moderne Architektur: der imposante, 25 Meter hohe Backsteinbau, der aus der alten Fabrik hervorgegangen ist, neben einem kleineren, schlichteren, in hellgrau gehaltenem Neubau, der die Galerie König beherbergt. Und die geschützte Mopsfledermaus residiert nun in einem Biotop im Außenbereich und einem Habitat im Untergeschoss.
Im 480 Zuschauer fassenden Konzertsaal, dem Elektra Tonquartier, kann dank moderner Klangtechnik die Akustik jedes Raumes weltweit nachgestellt werden, von stark hallenden Kirchgewölben bis zu isolierten Tonstudios. So löst sich der Konzertbetrieb bisweilen von strikt gegliederten Zuschauerreihen, Mitglieder der Musikensembles verteilen sich überall im Raum und sorgen so für immersive Erlebnisse. Für Altmann ist die Kesselhalle, das gigantische Foyer des Bergson, das Herzstück der Anlage. Sladek sagt, er fühle sich überall wohl, solange er nicht in seinem Büro vor seinem Computer sitzen müsse.
Sie beide kommen aus sehr unterschiedlichen Branchen. Wie funktioniert die Zusammenarbeit?
RS: Gut. Spektakulär gut sogar! Uns beide prägt die Arbeit mit Menschen, egal ob in der Gastronomie, der Hotellerie oder in der Kultur, es geht immer um die Beziehung zwischen Gast und dem Angebot.
MA: Wir haben uns eine ganze Zeit lang ein Büro geteilt, da war es dann der Ruf über den Schreibtisch. Seit das zweite Bürogeschoss fertiggestellt ist, ist es der schnelle Griff zum Telefonhörer, viele Dinge müssen ad hoc besprochen werden. Operativ lebt unsere Zusammenarbeit vom Vertrauen. Ich weiß, dass er bei seinen künstlerischen Entscheidungen an mich denkt und umgekehrt.
Herr Altmann, Sie kommen aus der Hotellerie, haben auch schon in der Gastronomie gearbeitet. Was macht diese Branchen aus?
Die Arbeit mit den Menschen. Das macht diese Branchen besonders schön, aber eben auch besonders herausfordernd. Ich könnte mir nichts anderes vorstellen.
Welche Eigenschaften können Sie aus der Hotellerie im Bergson einbringen?
Das Bemühen und den Wunsch, ein guter Gastgeber zu sein – bei allem, was wir hier tun. Und das nicht nur im Restaurant oder in der Bar, sondern wirklich über den ganzen Prozess des Besuchs hinweg. Angefangen dabei, dass unsere Gäste ein, zwei Tage vorher schon eine Mail bekommen mit Hinweisen zur Anfahrt und den Künstlern oder dem Vorschlag, einen Tisch bei uns im Restaurant zu reservieren. Da steckt nicht nur der wirtschaftliche Gedanke dahinter. Ich glaube, dass wir uns damit ein Stück weit unterscheiden können von anderen Kulturorten, weil wir diesen Servicegedanken in uns tragen.
Und umgekehrt: Was kann die Hotellerie vom Bergson lernen?
Improvisieren musste die Hotellerie schon immer. Ich glaube aber schon, dass uns hier Offenheit und Neugierde auszeichnen, eine gewisse Freude am Ausprobieren. Das vermisse ich manchmal an der Hotellerie: Oft wird ein funktionierendes Konzept einfach auf das nächste Haus übertragen. Aus ökonomischer Sicht überaus sinnvoll, klar. Aber so geht natürlich auch ein bisschen die Individualität verloren.
Ihr bietet heute Kunst, Kultur, Kulinarik und Events. Fehlt eigentlich nur noch ein Hotel, um das Portfolio zu vervollständigen, oder?
Das Thema Hotel war hier schon immer ein Gedankenspiel, das ist auch noch nicht komplett ad acta gelegt, aber auch nichts, was aktuell mit großem Fokus verfolgt wird. Wir müssen erst uns selbst kennenlernen und Mechanismen verstehen. Dann können wir irgendwann einmal über eine Erweiterung nachdenken.
„Wenn man erfolgreich sein will, muss man etwas finden, von dem man überzeugt ist – da unterscheidet eine Bigband sich nicht von anderen Bereichen. Man muss etwas finden, was noch nicht alle anderen auch machen, es braucht eine gewisse Tiefe.“
Herr Sladek, Sie leiten die hauseigene Jazzrausch Bigband, die mit ihren Techno-Konzerten international für Aufsehen gesorgt hat. Was braucht eine Bigband, um erfolgreich zu sein?
Wenn man erfolgreich sein will, muss man etwas finden, von dem man überzeugt ist – da unterscheidet sich eine Bigband nicht von anderen Bereichen. Man muss etwas finden, was noch nicht alle anderen auch machen, es braucht eine gewisse Tiefe. Man muss sein Publikum überzeugen, dass es Spaß macht, hierherzukommen. Mir ist außerdem wichtig, dass nicht nur die Leute im Publikum Spaß haben, sondern auch die Musiker.
Das Ausgehverhalten der Münchnerinnen und Münchner konzentriert sich hauptsächlich auf das Wochenende von Donnerstag bis Sonntag. Das spürt man auch im Bergson Kunstkraftwerk. Immer mehr Samstage und Sonntage sind lebendige Tage, an denen sich das Bergson den ganzen Tag über einer hohen Nachfrage erfreut. Bereits um 9 Uhr morgens startet das Angebot mit Yogakonzerten und einem Brunch. Am Nachmittag gibt es musikalische und kulinarische Angebote im Biergarten, und abends lädt das Bergson zu Konzerten, Clubabenden, Partys und Restaurantbesuchen ein.
Zunächst hatte das Bergson an sieben Tagen in der Woche von morgens bis abends geöffnet. Mittlerweile ist am Montag Ruhetag und die Öffnungszeiten wurden erst auf 14 Uhr, dann auf 15 Uhr verschoben. „Mittwochvormittags in Aubing, da tun wir uns schon schwer mit der Laufkundschaft“, sagt Altmann.
Es gibt viele Konzerte, Eventlocations, Kunstgalerien, Biergärten, Restaurants, Kleinkunstbühnen oder historische Gebäude – aber in der Kombination wie hier im Bergson gibt es das weltweit sehr selten. Der Ort kann nur im Zusammenspiel dieser vielen Gewerke funktionieren, auch wirtschaftlich. Das Bergson wird viele Fragen beantworten, die sich viele Kultur- und Eventlocations stellen müssen: Wie funktioniert eine Metropolregion? Wie kann man Locations attraktiv gestalten in dezentraler Lage? Die Vision, mit dem Bergson Antworten zu liefern und nicht nur Fragen zu stellen, fasziniert uns.
Das Bergson, wie es jetzt hier steht, ist wenige Monate alt. Wie, wünscht ihr euch, soll in vielen Jahren auf die Anfangszeit zurückgeschaut werden?
MA: Mit viel Freude, weil es das Bergson immer noch gibt (beide lachen). Ich wünsche mir auch, dass wir mit Respekt auf das schauen, was hier in ganz kurzer Zeit passiert ist. Auch die Erkenntnis, zurückzublicken und zu merken: Schau, es geht doch. Diesen Beweis anzutreten, dass so ein Projekt möglich ist.

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